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Platz 82 Der unschuldige Passagier
Ein Mann in einem Boot. Die See ist bewegt, die Wogen schlagen hoch und höher, das Boot voll Wasser. Schließlich schlägt es um. Und kopfüber, kopfunter wird die Kahnpartie fortgesetzt. Dann schreckt der Mann hoch - aus der Traum -, und die eigentliche Geschichte beginnt. Wie sein „Unschuldiger Passagier“, so ist Martin tom Dieck 1993 plötzlich in der Comic-Szene aufgetaucht und wurde bestaunt für diese absolut eigenständige, eigenwillige Arbeit, die so zwanglos, fließend ihr Thema umspielt: eine Suche, erst treibend, dann getrieben, bis besagter Passagier schließlich aus eigenem Antrieb agiert. Im Mittelpunkt steht eine der ältesten Metaphern der Menschheit: eine Seefahrt. Die ist nicht immer nur lustig (aber diese hier hat einen unverkennbaren, distanziert-ironischen Ton). Man erfährt z.B. nicht, wie dieser eher junge Mann an Bord der Barkasse gelangt ist. Schnell wird jedoch klar, es geht aufs offene Meer. Und daß der unschuldige Passagier dies nicht gewollt hat. Also fragt er nach dem Kapitän. Nun trifft er wohl auf Mitglieder der Crew, auf Mitreisende, und bei einer geheimnisvollen Expedition in den Schiffsbauch begegnet er gar dem Maschinisten, einer Art Demiurg. Aber nirgends eine Spur vom Spiritus rector des Unternehmens, vom Kapitän. Dafür mehren sich die Anzeichen des nahenden Untergangs, und schließlich bestätigen drei vorbeiziehende Grazien: einen Kapitän gibt es nicht. Konsequenz: dann lieber gar kein Schiff. Und der Passagier endet, wo es begann - allein in einem Boot, auf bewegter See. Aber nun den Blick gelassen auf den Horizont gerichtet. Man darf diese Geschichte sicher symbolisch nehmen. All ihre elementaren Bestandteile, das Schiff, die See, der Kapitän und schließlich der Passagier selbst, verfügen in dieser Hinsicht über eine altehrwürdige, äußerst reichhaltige Tradition. Und dennoch trieft diese Erzählung nicht vor Bedeutung - sie ist so angespannt wie entspannt, so komisch wie konzentriert. Martin tom Diecks Debüt läßt genügend Spielraum für das Lesen und Sehen, für das eigene Empfinden, die Stimmungen und Assoziationen, die sich in der Abfolge der Bilder ergeben. Er legt nicht fest, gelegentlich verschwimmen gar Gegenständliches und Ungegenständliches, und er variiert immer wieder Technik und Stil. Aber diese Geschichte hat trotz allem ihren eigenen Fluß. Das macht sie bis heute bewegend. (Martin Budde) Lesetipps:
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