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Platz 25 Calvin & Hobbes
Ein Kind, das permanent seine Umgebung terrorisiert, weil es partout nur das tun möchte, was ihm gefällt? Das ist nicht komisch, außer im Comic. Calvin ist so ein Comic-Kind, wie es sie seit den Anfängen des Mediums immer gegeben hat: Vom „Yellow Kid“ und seinen Kumpanen bis zum „kleinen Spirou“ durften sich diese Gören auf dem Papier danebenbenehmen, daß die Fetzen nur so flogen. Und es hat amüsiert. Wohl weil diesen Comic-Kindern das abgeht - bzw. weil sie dagegen rebellieren -, was ihr erwachseneres Publikum zu genüge genossen hat: Erziehung. Der Kontrast zwischen Ungezogenheit und comme il faut ist fundamental - bei Freud etwa heißt er Natur und Kultur - und immer für einen Lacher gut, denn jeder reibt sich auf irgendeine Weise daran. Calvin ist deshalb kein echter, sechsjähriger Erstkläßler. Er und all die anderen Comic-Kids seiner Art sind junge Wilde, dazu da, diesen ominösen Gegensatz stellvertretend für ihre bravere Leserschaft offen auszutragen und ihn so zu entschärfen. Die Calvin-Methode hat allerdings Charme: Seine unerschöpfliche Phantasie und sein impulshafter Charakter ermöglichen es ihm, sich fast jeder pädagogischen Zumutung spielerisch zu entziehen. Und sie verschaffen ihm den dringend erforderlichen Rückhalt in der tagtäglichen Auseinandersetzung mit einer ganzen Zivilisation: seinen Plüschtiger Hobbes. Mag er auch für alle anderen ein Stofftier sein und bleiben, für Calvin ist er wirklicher als die Wirklichkeit - mit ihm kann er alle Interessen wie auch Gedanken und Ansichten teilen. Hobbes macht alles mit, wird ihm nie widersprechen (auch wenn er bisweilen seine eigenen Auffasungen hat, besonders Tiger betreffend) und weiß darüber hinaus gelegentlich mit freundschaftlichem Rat Calvin aus so mancher Klemme zu helfen. Man könnte sogar sagen, Hobbes ist häufig die etwas klügere Hälfte des für gewöhnlich unzertrennlichen Gespanns. Daneben beschreitet Calvin aber auch öfter Solopfade und schlüpft in Alter Egos, die er meist gängigen Trivialmythen entlehnt - ob als Spaceman Spiff, Privatdetektiv Trigger Bullet, als Superheld „Stupendous Man“ alias „der Unfaßbare“, oder wenn er einfach als Tyrannosaurus Rex durch die Gegend stapft, stets geht er ganz und gar in seiner Vorstellungswelt auf. Zumindest solange, bis ihn die Wirklichkeit einholt und ihn aufgebrachte Eltern, verärgerte Lehrer oder eine wütende Babysitterin zur Rede stellen. Allerdings zeigt sich nicht erst im Repertoire seiner Phantasiewelten, daß Calvin im Zweifel über mächtige Komplizen verfügt, die helfen, das Konzept einer Erziehung beständig zu unterlaufen: die modernen Massenmedien, allen voran natürlich das Fernsehen (Comics im übrigen auch). Calvin ist ein begeisterter und vor allem bekennender Vielseher, denn mit den bequemen und billigen Ersatzwirklichkeiten kommt gleichzeitig auch die Medienkritik frei Haus. Calvin weiß also, was er da tut, wenn er apathisch vor dem Fernseher versinkt - und genießt es trotzdem. In dieser Hinsicht ist er ein „aufgeklärter Wilder“. Und ein getreues Spiegelbild der durch und durch vernunftorientierten Informationsgesellschaft, die einerseits auf den Rationalitätsdruck mit wachsender Faszination am Irrationalen reagiert und ansonsten unbequeme Konsequenzen konsequent ignoriert. Was andernorts zumal in Zeiten schwindender Verbindlichkeiten bedenklich sein mag - in „Calvin & Hobbes“ wird es allemal dadurch gebannt, daß Mächte existieren, die Calvins Unvernunft zügeln: die Gesamtheit der offiziellen Erziehungsbeauftragten eben. „Calvin & Hobbes“ ist aber noch mehr als ein witziger, einfallsreicher Kommentar zum „Unbehagen an der Kultur“ (wiederum Freud). In der Kindperspektive erschließt sich zwischen all den Allmachtsphantasien Calvins, seinen Ängsten, überzogenen Ansprüchen und alltäglichen Niederlagen noch einmal der Spaß am Abenteuer Heranwachsen, das spielerische Freiräume ausschöpft und kreative Fragen und Antworten umfaßt. Es scheint, als habe ein Teil davon auch auf Bill Watterson selbst, Calvins Urheber, abgefärbt, der in seinem Strip immer wieder nach originellen, ungewöhnlichen Ansichten gesucht und zäh darum gekämpft hat, sie verwirklichen zu können. Von Anfang an - Ende 1985 - wußte er, daß die Funktionsweise des Comics ihm die optimale Möglichkeit bot, die Perspektivwechsel zwischen Calvin und seiner Umgebung zu visualisieren; und diese Methode des Hin- und Herschaltens hat er über Jahre weiter verfeinert - mit zum Teil überraschenden graphischen Ergebnissen. Trotzdem scheint es unausweichlich, daß jedem Spiel irgendwann die Erstarrung zur Routine droht. Auch wenn es länger dauert und zahlreiche Varianten es zusätzlich hinauszögern: Eines Tages hat man die Regeln kapiert. Man könnte zwar noch eine ganze Weile weitermachen wie gehabt, aber es wäre nicht mehr dasselbe. Watterson hat schließlich gespürt, daß ihm genau diese Sackgasse einmal bevorstünde. So hat er von sich aus den Schlußstrich gezogen und - ungewöhnlich genug - seinen überaus erfolgreichen Comic strip Anfang 1996 eingestellt. Nicht umsonst lautet ja die einzige Regel bei Calvinball, daß man es nie zweimal nach den gleichen Regeln spielen darf. Tut man es trotzdem, beginnt das Lernen. Und wie sagte Hobbes einmal dazu? „Leben und nicht lernen, das sind wir!“ Gut gebrüllt, Tiger. Dabei mag es denn bleiben. (Martin Budde) Lesetipps:
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