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Platz 79

Julius Knipl, Real Estate Photographer
von Ben Katchor

 
Autor: Ben Katchor
Zeichner: Ben Katchor
Land: USA


Zeitungsstrips sind flüchtiges Cornflakes-Beiwerk. Zeitungsstrips haben Humor, Knollennasen, sprechende Tiere und eine Pointe. Zeitungsstrips sind leicht lesbar. Zeitungsstrips erzählen keine Geschichten. Julius Knipl, Real Estate Photographer ist ein Zeitungsstrip von Ben Katchor und hat von all dem kaum etwas – bis auf die Einteilung in zwei Streifen bzw. acht Panel und etwas, was man nach gebührendem Einlesen vorsichtig als eine entfernt von Woody Allen und Jim Woodring gestreifte, um drei Ecken gekrempelte Art urban-jüdischen Humors bezeichnen könnte. Knipl, der Name unseres Helden, bezeichnet im Jiddischen das Geld, das eine jüdische Hausfrau für Notfälle auf die Seite legt. Knipl ist unser Fremdenführer durch New York, photographischer Chronist der Großstadt. Allerdings trägt Knipl seine Kamera immer verschlossen um den Hals und ist alles andere als unser Auge zur Welt; gelegentlich lässt ihn Katchor nur mal eben im letzten Bild den gegenüberliegenden Bürgersteig entlanggehen oder am Panelrand im Bistro sitzen. Hauptakteure dieser dezentrierten Momentaufnahmen sind u.a. „The Drowned Men´s Association“, „The Apartment House Lobby Designer“, „TV Antenna Thieves“, „The Parked-Car Reader“, „The Smell of the Post Office“ oder „The Impresario of Human Drudgery“, um nur einige der mysteriösen, aber immer präzis inhaltlich orientierten Striptitel zu nennen. In, mit und neben ihnen entwickeln wir langsam die Kartographie eines imaginären, höchst wundersamen, doch gleichwohl in zittrigen Linien, schrägen, aber genauen Perspektiven und allen Spektren von Grau umso genauer erfassten und wirklicheren New Yorks. Unser Blick geht durch die Matrix des New York, das wir kennen, hindurch und fällt auf das wahre New York dahinter, das New York längst vergessener gymnastischer Apparate, der Geister gefeuerter Gameshow-Moderatoren, der Frisuren-Sammler und der Forscher, die nächtliche Schreie untersuchen. Mit Julius Knipl sehen wir verschwundene Plätze und Waren und dem scheinbar Marginalen und Unsichtbaren gewidmete Geheimgesellschaften, besuchen Orte, an denen fast nichts passiert oder stehen nahe bei Knipl selbst, einem einsamen Mann in einer Stadt voller einsamer Menschen. Katchors Texte sprechen eine karge, doch höchst enigmatische Prosa, die uns Kafka oder Borges herbeiassoziieren lässt, deren zugleich glasklaren und undurchschaubaren literarischen Gebilden man mit ähnlicher Hilflosigkeit ausgeliefert ist wie den Geschichten Ben Katchors. Der Schöpfer dieser einzigartigen Kunst, der aus Schüchternheit niemals Interviews gibt, sagt über Julius Knipl: „There´s a story in everything, you just have to figure out what it is.“ Nacherzählen kann man diese Stories beim besten Willen nicht, nicht mal auf die üblichen comictypischen heuristischen Hilfsmittel und Kategorien rückrechnen. Dieser Strip ist ein Wunder an Vorstellungskraft, Intelligenz und Originalität und hat, um´s mit Walter Benjamin zu sagen, „derart fett Aura, dass dir die Mütze wegfliegt.“ (Sven-Eric Wehmeyer)

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