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Platz 9 Gaston
Am 28. Februar 1957 erschien er erstmals auf der Bildfläche - und stand einfach nur rum. Kein Comic, kein Kommentar, nichts. Wenn es den Anti-Helden im Comic schlechthin gibt, dann ist es Gaston. (Mit Nachnamen übrigens Lagaffe, wörtlich: Missgriff, Missgeschick.) Denn als solchen hatte ihn Andre Franquin (1924-97) ausdrücklich erfunden. Während alle anderen Comic-Figuren der damaligen Zeit noch Woche für Woche brav und erfolgreich ihren Abenteuern nachgingen, war Gaston zunächst nur dazu da, seine Untauglichkeit für jede herkömmliche Verwendung unter Beweis zu stellen. Und so fing er schnell an, die redaktionellen Seiten des “Spirou”-Magazins zu verunsichern bzw. seinen Vorgesetzten Fantasio in dessen Redakteurseigenschaft zu Verzweiflung und Weißglut zu treiben. Gaston war anfangs selten mehr als der Bürotrottel und Prügelknabe. Franquin gab sich mit der Grundidee vollauf zufrieden, das konventionelle Heldenschema durchbrochen zu haben, und der Rest war Klamauk: Wer spielt wem einen Streich? Langsam verschob sich aber der Schwerpunkt aufs “wie”, und nun konnte Gaston sein Potential allmählich entfalten. Mit Phantasie und Beharrlichkeit ging er daran, nach seiner bloßen Anwesenheit auch seine Interessen durchzusetzen. Dazu gehörten alle Arten von Basteleien, Experimente oder musikalische Exzesse, nur keine geregelte Bürotätigkeit. Das solcherart provozierte Establishment schlug, hauptsächlich in Person seines Handlangers Fantasio, häufig recht handgreiflich zurück. Gaston aber quittierte jeden Korrektur- oder Erziehungsversuch mit stoischem Gleichmut. Im übrigen durfte man darauf gefasst sein, dass Gastons Aktivitäten und Einfälle immer wieder absurde Ergebnisse zeitigten. Mitunter genügte dafür sein bloßes Erscheinen, und schon ging es schief. Fehlendes Talent und den Hang zum Missgeschick machte er jedoch durch Enthusiasmus und Engagement mehr als wett. Dass seine Bastelleidenschaft und Experimentierfreude gleichzeitig einen subversiven, ironischen Kommentar zur damals noch allgegenwärtigen Technikbegeisterung - gerade auch im Comic - darstellten, sei nur am Rande erwähnt. (ähnliches ließ Franquin ja ungefähr gleichzeitig im Zyklotrop-Zyklus seiner Hauptserie “Spirou und Fantasio” anklingen.) Man konnte sich aber darauf verlassen: selbst wenn infolgedessen das gesamte Büro in die Luft flog - nie hatte es Gaston böse gemeint. Mit dieser unberechenbaren Mischung aus abstrusen Ideen und unbedarfter Gutmütigkeit hatte Gaston die Redaktion insgeheim schon im Griff. Ihn zur Verantwortung zu ziehen, fruchtete nichts. Stets war er unschuldig wie ein großes Kind. Parallel dazu kam Andre Franquin mit “Spirou und Fantasio” immer schleppender voran. Er empfand diese Serie, die er als junger Spund ohne Erfahrung übernommen und zu ungeahnten Höhen geführt hatte, zunehmend als Tretmühle. Die Lücken in ihrem ehedem kontinuierlichen Erscheinen wurden größer, und an ihre Stelle trat - natürlich Gaston. Ihre vorletzte Episode unter Franquin geriet schon zu einem langen Gaston-Abenteuer, zugleich verdoppelte sich der Umfang von dessen Auftritten zu einer vollen Seite pro Heft. Und schließlich gab Franquin 1968 die Titelserie endgültig ab, um sich nur noch seinem “Büroboten” zu widmen. Nun hatten beide freie Bahn. Auch räumte der bedauernswerte Fantasio jetzt seinen Bürostuhl, und der Nachfolger Demel war bald nur noch ein nervliches Wrack. Längst hatte sich außerdem Gastons Tätigkeitsfeld auf die Nachbarschaft ausgedehnt. Und besonders der ewige Kleinkrieg mit Wachtmeister Knösel, dem Herrn der Knöllchen, gab ihm reichlich zu tun - noch ein Vertreter angemaßter Autorität, dem Gaston seine eigene entgegensetzte: ein urwüchsiges Recht auf Kreativität, ohne einengende Regeln, eine Form des Miteinanders, die nicht von Arbeitszeiten und Parkuhren bestimmt ist. In der 70ern erlebte Gaston seine Hochphase. Seine Ideen wurden immer ausgefeilter ausgefallener und (aber-) witziger - oder die von Franquin. Denn endlich befreit von der ewigen Rücksichtnahme auf bürgerliche Sekundärtugenden konnte der nun seinem anarchischen Einfallsreichtum die Zügel schießen lassen und seinen schwungvollen Zeichenstil weiter entfalten. Wilde Verfolgungen, abstruse Verkettungen waren jetzt sein Metier und “Gaston” nichts anderes als Vitalität pur. Der ehedem unbekümmerte Tolpatsch entwickelte ansatzweise sogar so was wie ökologisches und soziales Bewusstsein - und er begann zarte Bande zu knüpfen zu Fräulein Trudel, ehedem misogynes Mauerblümchen in der Redaktion. Die Serie rundete sich nun; von der anfänglichen Außenseiterklamotte mit bisweilen denunziatorischen Zügen hatte sie sich entwickelt zur lustvollen Konfrontation zwischen kraftvollem Phantasieüberschuss und den zwanghaften Verwertungsinteressen der Arbeitswelt, die den Ausblick freigab auf eine anarchische Utopie. Höhe- und Schlusspunkt der Auseinandersetzung war ein fulminanter Fußtritt für Bruchmüller, den cholerischen Vertreter des Kapitals. Dieser einmalige tätliche Angriff war ein Warnzeichen, dass sich der Konflikt nur noch mit Mühe im Zaum halten ließ. Längst hatte sich auch in Franquins Stil eine forcierte Anspannung eingeschlichen, bis zum Bersten angefüllt mit unterschwelliger Nervosität. Zwischenzeitlich hatte er sich ein Ventil verschafft mit den “Schwarzen Gedanken”, in denen er alle möglichen Formen alltäglichen Irrsinns, vor allem gesellschaftliches Fehlverhalten, scharf karikierte, mit akribischer Wut und bissigem, schwarzem Humor. Doch für eine solche Aggressivität war in “Gaston” kein Platz. Dessen subversive Anschläge auf die Arbeitsmoral hatten freundlich und arglos zu bleiben. Diese Anspannung entlud sich in einer persönlichen Katastrophe. Franquin verfiel einer manifesten Depression, die jede weitere Arbeit blockierte. In den 80er Jahren war es ihm weitestgehend unmöglich zu zeichnen, und als er sich Anfang der 90er Gaston noch einmal für einige Strips vornahm, war diese alte, treibende, schließlich aber zerstörende Kraft verschwunden. Den letzten “Gaston”-Seiten sieht man an, wie vorsichtig, behutsam sie realisiert wurden. Natürlich war seine Gesundheit ein zu hoher Preis. Aber Andre Franquin war in aller Bescheidenheit nie in der Lage, weniger als alles zu geben, wozu er fähig war, und hat sein Limit dabei immer weiter voran getrieben. Entstanden ist auf diese Art ein klarer Beweis, dass auch eine scheinbar kleine Form zu großer Meisterschaft taugt. Mehr noch: “Gaston” ist ein Kunstwerk, das sich nie als solches verstand - gerade deshalb. (Martin Budde) Lesetipps:
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