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Platz 70 Die Abenteuer von Rosalie
Wer kennt heute noch Calvo? Die französisch-belgische Comic-Geschichte beginnt für uns meist bei Hergé. Und dann kommt noch eine ganze Weile gar nichts. Dabei hatte Edmond-François Calvo (1892-1957) erst relativ spät, doch immerhin schon 1938 mit dem professionellen Zeichnen begonnen und bald einen ausgeprägten, unverwechselbaren Stil entwickelt. Obwohl nun um ihn herum gerade die neueren Comics richtig in Mode kamen, beharrte er aber zunächst eigenwilligerweise noch auf der Tradition der Bildergeschichte, die gemütlich von Bild zu Bild voranschreitet, bei ihm allerdings in einem waghalsig verschachtelten Seitenaufbau. Und dazu kommen expressiv verdrehte, maniriert verzerrte Dekors wie Figuren und eine unglaubliche Detaildichte, die von sich aus jeden hektischen Lesefluß abbremst. Angefangen hatte er mit durchaus realistischen Geschichten, u.a. einer Adaption der "Robin Hood"-Verfilmung mit Errol Flynn. Aber schon bald wandte er sich vorwiegend antropomorphen Tierfiguren zu, wie etwa dem Hasen "Patamousse" (1943). Hier läßt sich sehr gut erkennen, warum ihn Walt Disney schon bald anheuern wollte. Calvo aber blieb lieber bei seinen eigenen Bildergeschichten (und dem Vernehmen nach der französischen Küche), und es entstand, noch in der Endphase der Besatzungszeit, die unglaubliche Tierfabel "Die Bestie ist tot", eine von seinem damaligen Verleger Victor Dancette verfaßte, patriotisch überhöhte Propaganda-Geschichte, die allerdings vor dem Hintergrund heute von Art Spiegelmans "Maus" neue Beachtung verdiente. Hier sind die Franzosen friedliebende Hasen, die Deutschen mordlüsterne Wölfe (und eine wunderbare Karikatur zeigt den verschlagenen Leitwolf - Hitler natürlich -, wie er den Mond anheult). Unglaublich daran ist aber vor allem das überbordende Artwork Calvos, das sich bis hin zu triumphalen Doppelseiten mit üppigen Details steigert, voller Spannung wie Bildwitz. Sein grandioses Meisterstück in diesem Stil wurden aber ein Jahr später "Die Abenteuer von Rosalie", einem kleinen, antropomorphen (!) Automobil. Wieder spielt hier zwar der Krieg eine einschneidende Rolle (diesmal der von 1914-18), aber Calvos Ehrgeiz zielte nun vor allem darauf ab, auch das noch so kleinste Ding zu beleben. So wimmelt es in Rosalies Geschichte nur so von Autozubehör, Werkzeugen und Kleinteilen, die allesamt mit Gesicht, Händen und Füßen ausgestattet sind und zum Schluß ein ausgelassenes Fest feiern. Ein großartiges, originelles und höchst amüsantes Phantasiestück. An Sprechblasen hat sich Calvo in seiner Spätphase übrigens doch noch gewöhnt. Von seinen umfänglichen Begleittexten wich er trotzdem nicht ab, und erst recht nicht von seinem unvergleichlichen, verschlungenen Stil. Aber zurück zu der Frage, wer kennt heute noch Calvo? Da war 1940 ein 13jähriger Junge, der jeden Samstag stundenlang fasziniert Calvo beim Zeichnen über die Schulter sah. Schließlich zeigte er ihm schüchtern auch seine eigenen ersten Versuche. Und Calvo munterte ihn freundlich auf weiterzumachen. Der Junge hieß Albert Uderzo und bezeichnet Calvos Arbeiten noch heute als eine seiner prägenden Anregungen. Vielleicht hat er damals den Spaß an der Detailfülle entdeckt? Wenn das so ist, dann kennt Calvo heute eigentlich jeder - ohne es zu wissen. (Martin Budde)
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