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Platz 11 ACME Novelty Library
Welch ein Wirrwarr. Jeder Versuch, die „ACME Novelty Library“ von Chris Ware - im Herbst 1993 begonnen und im Frühjahr 2000 (vorläufig) abgeschlossen - in eine vernünftige Reihung zu bringen, ist ein zeitraubendes Unterfangen. Wechselnder Umfang und kraß unterschiedliche Formate - von kleinen, querformatigen Broschüren bis zum riesengroßen Heft im Zeitungsformat - sowie eine mitunter kaum auszumachende, vertrackte Numerierung machen es einem nahezu unmöglich, die insgesamt vierzehn Bände sauber in einem Regal oder sonstwo unterzubringen. Auf den ersten Blick faszinierend ist allerdings das altmodische, ornamentüberladene Design jedes einzelnen Titels, das immer wieder anders den Stil der Versandhauskataloge, Werbezettel und Pulphefte zu Beginn des (20.) Jahrhunderts imitiert. Eine gedrängte Fülle an Schnörkeln, Vignetten, Schriftzügen und hochgestochenen, aber mikroskopisch kleinen Reklamesprüchen fesselt und irritiert zugleich die Aufmerksamkeit. Dagegen besticht die Graphik des Inhalts zunächst mit wohltuender Klarheit - bis bei näherem Hinsehen deutlich wird, daß auch hier ein alles durchdringendes graphisches Konzept scheinbar spielerisch, in Wahrheit aber eisern zahllose disparate Einzelteile zusammenhält, ohne daß sie unmittelbar miteinander in Beziehung stünden. In diesem Sammelsurium aus kurzen, cartoonesken Strips, Comic-Episoden, Illustrationen, Diagrammen, Heften im Heft, gefaketen (Klein-) Anzeigenseiten und noch manches mehr gibt es dennoch so was wie einen massiven, inhaltlichen Kern, einen Erzählfaden, so verschlungen der sich auch abwickeln mag. Mehr als die Hälfte der Hefte, nämlich acht Ausgaben, sind unmittelbar einer einzigen Story zuzuordnen: der von „Jimmy Corrigan, The Smartest Kid On Earth“ (und dazu kommen mindestens noch zwei, die frühe Versionen enthalten). Der Titel ist ein blanker Euphemismus, eine großzügige, marktschreierische Übertreibung, denn dieser J.C. ist weder Kid noch smart. Tatsächlich ist er ein farbloser, 36jähriger Sonderling - Angestellter in einem Großraumbüro, ein Muttersöhnchen, furchtbar introvertiert, den eine Aura herzzerreißender Einsamkeit umweht. Sein zutiefst banales, belangloses Dasein schildert Chris Ware in quälend ereignisarmen Momentaufnahmen und absurden Tagträumen, in denen sich sein Protagonist etwa als altertümlicher Blechbüchsenroboter sieht - rundum gepanzert - oder als Sci-Fi-Wunderkind, „The Smartest Kid On Earth“ eben, Pulp-Abenteuer erlebt. Jimmy Corrigans Lebensuntüchtigkeit, seine Unfähigkeit zur Kommunikation wurzeln in einer vaterlosen Kindheit. Das geht aus kurzen Einschüben hervor, die ihn als introvertierten Knaben zeigen, dessen Wahrnehmung die (erwachsene) Wirklichkeit glatt unterläuft. So nimmt seine Geschichte urplötzlich Fahrt auf, als ihn sein verschollener Vater eines Tages bittet, ihn zu besuchen. Diese Begegnung trägt alle Züge eines Fiaskos, denn weder der gutmeinende, aber von Schuldgefühlen geplagte Vater, noch der emotional hilflose und insgeheim von gewalttätigen Rachephantasien verfolgte Sohn kommen mit der Situation einigermaßen klar. Der eine flüchtet sich in belangloses Geplauder, der andere in das, was er am ehesten kann: verwirrtes Schweigen. Dennoch geraten die Verhältnisse über die Dauer von Jimmys Anwesenheit - insgesamt nur wenige Tage - langsam, aber unaufhaltsam in Bewegung. Eingeschoben wird außerdem die Geschichte seines Großvaters, der als Kind ein ähnliches Schicksal erlitt - das bis dahin kohärenteste Kapitel der mäandernden Erzählung. Es scheint fast, als wäre der frühe Elternverlust so etwas wie der Fluch dieser Familie. Und dann überschlagen sich die Ereignisse: Jimmy reist schließlich überstürzt ab, zutiefst verstört. Nur, auch daheim in Chicago hat sich manches verändert. So besteht schließlich die vage Aussicht, daß er aus seinem trostlosen Kokon doch noch herausfindet - ein Fünkchen Hoffnung, mehr nicht, aber immerhin... Bleibt die Frage nach der Einbettung von Chris Wares tragischem Anti-Helden in diesen prätentiösen ACME-Kontext, der einen auffälligen Kontrast zur inneren Leere schafft, die seinen Jimmy Corrigan lähmt. Die aufwendige Ausstattung, das überbordende Design , all das wirkt nur scheinbar widersinnig. In Wahrheit folgt es dem Gestaltungsprinzip des Horror vacui, zu übersetzen mit panischer Angst vor der Leere - et voilà, da hätten wir den inneren Zusammenhang. Endgültig offenbar wird das, wenn man das Kleingedruckte der Pseudo-Anzeigen zum Beispiel wirklich liest: geworben wird da keineswegs für „witzigen“ Schnickschnack, sondern für lebenslange Komplexe, Instant-Schuldgefühle oder perfide Rachegelüste. Eine boshafte Revanche für all die billigen Ersatzbefriedigungen, die früher über solcherart aufgemachte Inserate an ahnungslose, wundergläubige Kinder vertickt wurden. Oder die zahlreichen, akribischen Bastelbögen, die fast jeden ACME-Band zieren: mit ihnen lassen sich Ersatzwelten schaffen, kleine Figuren und Dioramen nach Motiven der Geschichten, die ja an sich ganz niedlich sind und auch garantiert funktionieren. Nur können sie im Zweifelsfall wirklich über ein ungelebtes Leben hinweg trösten? Und was ist davon zu halten, wenn eine der peniblen, jovialen Bastelanleitungen den Tip gibt, bei aufkommenden Schwierigkeiten einen Erwachsenen um Hilfe zu bitten, darüber aber unversehens völlig aus dem Ruder läuft und selbst zu einem einzigen Hilfeschrei nach dem abwesenden Vater mutiert? Keine Frage: die „ACME Novelty Library“ ist ein ausgetüfteltes, vielschichtiges und durchkomponiertes Großunternehmen, beseelt von einem ungeheuren Gestaltungswillen, vor allem aber von einem zentralen Anliegen, das sich massiv, mit aller Wucht auf sämtlichen Ebenen und in jedweder Form Bahn bricht. Unnötig zu erwähnen, daß auch die scheinbar humoristischen Strips, die den Rest der Library ausmachen, in Wahrheit todtraurige Geschichten von Verlust-, Versagens- und Versagungsangst sind. Was so geschmäcklerisch daherkommt, ist somit ein emotional höchst aufwühlendes Opus magnum, das einen beinah erschlägt, so bald man sich näher darauf einläßt. Wer sich diesem beispiellosen Comic-Monument nähert, sollte darauf gefaßt sein, mehr zu bekommen, als er jemals verlangt hat. (Martin Budde) Lesetipps:
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